Bernhard C. Striebel
Drei oder vier gleich große, gleich starke Glasplatten, alle im gleichen Abstand von der Wand in völlig gleicher Weise montiert, mit gleichen Abständen untereinander – und jeweils ein Wort, das einen Aspekt von Gleichheit benennt, in gleicher Schrift jeweils auf der Hinterseite der Glasplatte an der gleichen Stelle oder in gleichem Abstand zum Rand angebracht: ein Spiegelkabinett der Tautologien als bizarre Inszenierung der Leere und Unfruchtbarkeit des Immergleichen? Aber indem Aspekte der Gleichheit evoziert werden, ist die Gleichheit schon dahin: Liest man Glastafel und Schrift gemeinsam als „Bild“ (und also die Schrift nicht als bloß akzidentellen Kommentar), so wird gerade das dementiert, was behauptet wird. „Bildgleich“ sind die Tafeln dann nicht mehr, denn jede präsentiert ein anderes Wort; „zeitgleich“ sind sie nicht mehr, denn im Lesen der verschiedenen Worte vergeht Zeit; und „beschreibungsgleich“ waren sie nur so lange, wie der Sprung von einer analytischen zu einer bildhaften Wahrnehmung noch nicht vollzogen worden war.
Am Ende dieses ersten Wahrnehmungsversuchs steht das Paradox: Solange – diskursiv – die Worte als bloße Kommentare, als Hinweise auf das Identische verstanden wurden, herrschte die Leere des Spiegelkabinetts; sobald bildhaft-intuitiv wahrgenommen wird, sobald die Einheit von Glastafel und Wort als „Bild“ gesehen wird, treten die Differenzen hervor. Der Verstand nivelliert also trotz aller Diskursivität, der „ästhetische Blick“ aber läßt das Individuelle erst erscheinen.
Doch dieser erste Versuch ist insgesamt noch eine Wahrnehmung der Reduktion und der Nivellierung, ist insgesamt zu „begrifflich“ angesichts der Bildhaftigkeit, die die Glasplatten zu entfalten vermögen, wenn sie in ein reiches Umfeld von Realität eintreten. Die Worte, die Aspekte von Gleichheit behaupten, „schweben“ dann bestimmt und unbestimmt zugleich zwischen ihrer präzisen Gestalt und den Schattenformen, die sie je nach dem Spiel des Lichts hinter sich auf der Wand erzeugen und mit denen sie sich überlagern. Und vor ihnen, auf der Glasscheibe, kann sich eine unendliche Spiegelung und Brechung von Realität ereignen. Die Eigenschaften des Glases, Transparenz und Reflexion, verdichten sich zur Metapher für das unabschließbare Doppelspiel von chaotischer Wahrnehmung und begrifflichem Ordnungsversuch; zugleich erscheinen auf der Vorderseite Reflexionen und auf der Rückseite, „durchgeschaut“ durch alle Brechung, der Appell zur Einheit, der sich selbst doppelbödig wird. In seiner Hamburger Installation Fleetinsel 71/72 hat Bernhard Striebel das modellhaft gezeigt.
Nicht mehr kann hier die Rede sein von nivellierenden Verstandesleistungen, die dem „ästhetischen Blick“ entgegengesetzt seien, die das Individuelle unterdrückten. Nicht klassifizierend-ruhigstellend tritt der Begriff hier auf; er wird sich selbst zur bloßen Erscheinung, zur problematischen Größe in einem Wechselspiel von Einheitsleistung und nicht zu domestizierender Vielfalt. Und weil er sich selbst problematisch wird und doch Geltung haben soll, tritt er in der Form des Appells auf: des Appells der Rationalität in einem Feld, dessen Vielschichtigkeit und Mannigfaltigkeit der Realitätsbrechung sinnbildhaft in Arbeiten zum Ausdruck kommt, dessen wesentliches Element er selbst ist.
Die große dreiteilige Glasarbeit Gliederung I führt das in der Würdeform des Triptychons in programmatischer Weise vor, und die dreiteilige Fotoarbeit definitionsgleich – präsentationsgleich – bildgleich liefert mit ihren chaotischen Realitätsausschnitten (eine teils identische, teils verschiedene – weil verschobene – Holzmaserung) das Exemplum: „Begriffliche Ordnung“ (der zentrale Begriff des Triptychons), das entspricht dem „definitionsgleich“ – gleiches Medium, gleiche Größe, gleicher Vergrößerungsmaßstab. „Optische Ordnung“, das entspricht dem „präsentationsgleich“ – gleiche Form der Darbietung des nur scheinbar Gleichen. „Bildliche Ordnung“, das entspricht dem „bildgleich“ – aber hier, wo Bildhaftigkeit evoziert wird, tritt alle Differenz der chaotischen Mikrostruktur zutage, auch wenn die Maserung zum Teil identisch ist. In der bildhaften Wahrnehmung der verschobenen Ausschnitte wandelt sich das Teilidentische / Teilverschiedene kategorial zum Individuellen.
Der Begriff aber ist bis zum Schluß notwendiger, wenn auch zunehmend problematisch werdender Bestandteil der Wahrnehmung. Bernhard Striebel ergreift nicht einseitig Partei für den „ästhetischen Blick“ und damit für philosophische Modetheorien des letzten Jahrzehnts: Nicht das Scheitern von Diskursivität ist sein Thema, sondern das unaufhebbare Wechselspiel zwischen Rationalität und Intuition, zwischen Identifizierungsleistung und Hervorhebung des Anderen.
(aus dem Katalog: „Bernhard C. Striebel“, Künstlerhaus Bethanien, Berlin)