Klaus Heinrich Kohrs

Bernhard C. Striebel

   Drei oder vier gleich große, gleich starke Glas­plat­ten, al­le im glei­chen Ab­stand von der Wand in völ­lig glei­cher Wei­se mon­tiert, mit glei­chen Ab­stän­den un­ter­ein­an­der – und je­weils ein Wort, das ei­nen As­pekt von Gleich­heit be­nennt, in glei­cher Schrift je­weils auf der Hin­ter­sei­te der Glas­plat­te an der glei­chen Stel­le oder in glei­chem Ab­stand zum Rand an­ge­bracht: ein Spie­gel­ka­bi­nett der Tau­to­lo­gien als bi­zar­re Ins­ze­nie­rung der Lee­re und Un­frucht­bar­keit des Im­mer­glei­chen? Aber in­dem As­pek­te der Gleich­heit evo­ziert wer­den, ist die Gleich­heit schon da­hin: Liest man Glas­ta­fel und Schrift ge­mein­sam als „Bild“ (und al­so die Schrift nicht als bloß ak­zi­den­tel­len Kom­men­tar), so wird ge­ra­de das de­men­tiert, was be­haup­tet wird. „Bild­gleich“ sind die Ta­feln dann nicht mehr, denn je­de prä­sen­tiert ein an­de­res Wort; „zeit­gleich“ sind sie nicht mehr, denn im Le­sen der ver­schie­de­nen Wor­te ver­geht Zeit; und „be­schrei­bungs­gleich“ wa­ren sie nur so lan­ge, wie der Sprung von ei­ner ana­ly­ti­schen zu ei­ner bild­haf­ten Wahr­neh­mung noch nicht voll­zo­gen wor­den war.

   Am En­de die­ses ersten Wahrnehmungsversuchs steht das Paradox: Solange – dis­kur­siv – die Wor­te als bloße Kom­men­ta­re, als Hin­wei­se auf das Iden­ti­sche ver­stan­den wur­den, herrsch­te die Lee­re des Spie­gel­ka­bi­netts; so­bald bild­haft-in­tui­tiv wahr­ge­nom­men wird, so­bald die Ein­heit von Glas­ta­fel und Wort als „Bild“ gesehen wird, tre­ten die Dif­fe­ren­zen her­vor. Der Ver­stand ni­vel­liert al­so trotz al­ler Dis­kur­si­vi­tät, der „äs­the­ti­sche Blick“ aber läßt das In­di­vi­du­el­le erst erscheinen.

   Doch dieser erste Versuch ist insgesamt noch eine Wahr­neh­mung der Re­duk­tion und der Ni­vel­lie­rung, ist ins­ge­samt zu „be­griff­lich“ an­ge­sichts der Bild­haf­tig­keit, die die Glas­plat­ten zu ent­fal­ten ver­mö­gen, wenn sie in ein rei­ches Um­feld von Re­a­li­tät ein­tre­ten. Die Wor­te, die As­pek­te von Gleich­heit be­haup­ten, „schwe­ben“ dann be­stimmt und un­be­stimmt zu­gleich zwi­schen ih­rer prä­zi­sen Ge­stalt und den Schat­ten­for­men, die sie je nach dem Spiel des Lichts hin­ter sich auf der Wand er­zeu­gen und mit de­nen sie sich über­la­gern. Und vor ih­nen, auf der Glas­schei­be, kann sich ei­ne un­end­liche Spie­ge­lung und Bre­chung von Re­a­li­tät er­eig­nen. Die Ei­gen­schaf­ten des Gla­ses, Trans­pa­renz und Re­fle­xion, ver­dich­ten sich zur Meta­pher für das un­ab­schließ­ba­re Dop­pel­spiel von chao­ti­scher Wahr­neh­mung und be­griff­li­chem Ord­nungs­ver­such; zugleich er­schei­nen auf der Vor­der­sei­te Re­fle­xio­nen und auf der Rück­sei­te, „durch­ge­schaut“ durch al­le Bre­chung, der Ap­pell zur Ein­heit, der sich selbst dop­pel­bö­dig wird. In sei­ner Ham­bur­ger In­stal­la­tion Fleet­insel 71/72 hat Bern­hard Strie­bel das modell­haft gezeigt.

   Nicht mehr kann hier die Rede sein von nivellierenden Ver­stan­des­lei­stun­gen, die dem „äs­the­ti­schen Blick“ ent­ge­gen­ge­setzt sei­en, die das In­di­vi­du­el­le un­ter­drück­ten. Nicht klas­si­fi­zie­rend-­ru­hig­stel­lend tritt der Be­griff hier auf; er wird sich selbst zur bloßen Er­schei­nung, zur pro­ble­ma­ti­schen Größe in ei­nem Wech­sel­spiel von Ein­heits­lei­stung und nicht zu do­me­sti­zie­ren­der Viel­falt. Und weil er sich selbst pro­ble­ma­tisch wird und doch Gel­tung ha­ben soll, tritt er in der Form des Ap­pells auf: des Ap­pells der Ra­tio­na­lität in einem Feld, des­sen Viel­schich­tig­keit und Man­nig­fal­tig­keit der Rea­li­täts­bre­chung sinn­bild­haft in Ar­bei­ten zum Aus­druck kommt, des­sen we­sent­li­ches Ele­ment er selbst ist.

   Die große dreiteilige Glasarbeit Gliederung I führt das in der Würde­form des Trip­ty­chons in pro­gram­ma­ti­scher Wei­se vor, und die drei­tei­li­ge Fo­to­ar­beit de­fi­ni­tions­gleich – prä­sen­ta­tions­gleich – bild­gleich lie­fert mit ih­ren chao­ti­schen Rea­li­täts­aus­schnit­ten (ei­ne teils iden­ti­sche, teils ver­schie­de­ne – weil ver­scho­be­ne – Holz­ma­se­rung) das Exem­plum: „Be­griff­li­che Ord­nung“ (der zen­tra­le Be­griff des Trip­ty­chons), das ent­spricht dem „de­fi­ni­tions­gleich“ – glei­ches Me­dium, glei­che Größe, glei­cher Ver­größe­rungs­maß­stab. „Op­ti­sche Ord­nung“, das ent­spricht dem „prä­sen­ta­tions­gleich“ – glei­che Form der Dar­bie­tung des nur schein­bar Glei­chen. „Bild­li­che Ord­nung“, das ent­spricht dem „bild­gleich“ – aber hier, wo Bild­haf­tig­keit evo­ziert wird, tritt alle Dif­fe­renz der chao­ti­schen Mikro­struk­tur zu­ta­ge, auch wenn die Ma­se­rung zum Teil iden­tisch ist. In der bild­haf­ten Wahr­neh­mung der ver­scho­be­nen Aus­schnit­te wan­delt sich das Teil­iden­ti­sche / Teil­ver­schie­de­ne ka­te­go­rial zum Individuellen.

   Der Begriff aber ist bis zum Schluß notwendiger, wenn auch zu­neh­mend prob­le­ma­tisch wer­den­der Be­stand­teil der Wahr­neh­mung. Bern­hard Strie­bel er­greift nicht ein­sei­tig Par­tei für den „äs­the­ti­schen Blick“ und da­mit für phi­lo­so­phi­sche Mo­de­theo­ri­en des letz­ten Jahr­zehnts: Nicht das Schei­tern von Dis­kur­si­vi­tät ist sein Thema, son­dern das un­auf­heb­ba­re We­chsel­spiel zwi­schen Ra­tio­na­li­tät und In­tui­tion, zwi­schen Iden­ti­fi­zie­rungs­lei­stung und Her­vor­he­bung des Anderen.

(aus dem Katalog: „Bernhard C. Striebel“, Künstlerhaus Bethanien, Berlin)

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